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SPRACHGARBE - IM ANFANG WAR DAS WORT

gewebe

in der von licht durchfluteten landschaft holder matten tränkt der arme städter seine wunde seele und die schwarzen schafe seines grauen daseins ersaufen still und friedlich im grünen saft des wiesengrunds.

anleitung

den leichten ruck und den dabei hörbaren dumpfen schlag sogleich wieder vergessen, ohne anzuhalten anstandslos weiterfahren, sich auf die weisse linie in der strassenmitte konzentrieren, ruhig geradeaus in das helle loch blicken, das die scheinwerfer in die nacht werfen, das leise grauen bei jedem weiteren schlag augenblicklich wegstecken, die aufkommenden zweifel durch den leichten druck auf das gaspedal im keim ersticken, die musik mit einem kühnen handgriff lauter stellen, noch lauter, den blick sturer geradeaus, die hände fester am lenkrad, den fuss steifer am gas, immer schneller in die nacht hinein über den asphalt durch das rudel rehe auf den baum zu, der pötzlich in der kurve steht und nicht mehr zu verfehlen ist.

blau

unten am fluss ist das wasser blau. in den zweigen krächzt der mond. über der steppe girrt ein tonband. spuren irren im sand.

unten am fluss ist das wasser blau. im dunkel gähnt ein nilpferd. in den büschen pisst ein känguruh. der himmel in der ferne türmt sich.

unten am fluss ist das wasser blau. die bäume fröstelen im wind. grelles licht zerreisst die nacht. regen klatscht achtlos ins gras.

unten am fluss ist das wasser blau. im feuerschein zeichnen sich schatten. hyänen heulen im chor. überm gebirg erscheint der tag.

unten am fluss war das wasser blau.

code

in rasendem wahn / galoppiere ich / über die brennenden felder / der geknechteten menschheit / will ihre fesseln / vor das gericht der göttlichen / nichtigkeit zerren / und verzehre mich / im ringen / um das codewort des universums

hase

in den wäldern hallen schüsse. die jäger jagen wild. ein hase schlägt haken. eine kugel brennt in seinen pelz. er überschlägt sich und bleibt liegen.

herbstblätter schimmern gelb. stiefel stapfen im unterholz. hunde bellen. ein reh schreckt auf und satzt davon. ein schuss, eine kugel, es fällt. zuckend atmet es seine letzte luft.

die metzger ziehen dem wild das fell über die ohren. in den restaurants essen die gäste pfeffer. in den wäldern fallen die blätter. nasse novemberstürme fegen in kalten nächten wütend über das land. aus den kaminen steigt rauch. die jäger knacken nüsse und stricken latein. an weihnachten hängt ein hirschgeweih mehr an der wand. nach neujahr ist der boden hart.

wieder ist ein hase tot.

kurzschluss

die menschen schlafen in den höhlen der neuzeit. in den atomsicheren bunkern sterben die letzten militärs. in den raketensilos schmarotzt der borkenkäfer. elektronen spielen kurzschluss im computergehirn.

die überlebenden gehen auf einander zu. sie berühren, betasten, umarmen sich. sie verlassen die stadt.

in den wäldern werden sie kinder zeugen.

luise

gestern kurz nach vierzehn uhr fuhr ein 42-jähriger automobilist mit seinem wagen beim rotlicht hinter der heiliggeistkirche eine fussgängerin an

es war ein sonniger tag anna maria winter wartete beim fussgängerstreifen auf grün als sie auf der anderen strassenseite die frau entdeckte

als sie über die strasse mir entgegen kam wusste ich dass ich dich kannte du hast mich damals ohne zu fragen in dein haus geholt als ich hungrig und frierend in deinem garten herumschlich

ich flüstere deinen namen ich weiss nicht ob du ihn hörst das auto hat dich auf den asphalt geworfen ich knie neben dir du regst dich nicht ich kann deinen puls nicht fühlen ich streiche mit der hand über dein haar

luise

ruhe

in den asphaltschluchten der stadt stehen autos. das kalte blech glänzt.

ein hund schleicht um die ecke und pisst an den randstein. schnee fällt.

die menschen in den käfigen schlafen. tote bauen städte in die träume. die letzten bäume werden gefällt.

noch sieht keiner risse im asphalt, noch dringen die schlingpflanzen nicht aus den abwasserschächten, noch herrscht ruhe im grab.

die jungfrau

1 verheissung

sie war siebzehn, sie war bildschön, sie war jungfrau, und sie wollte es bleiben, bis der richtige kam. als sie zwanzig war, war der richtige noch nicht gekommen. sie wartete und wurde älter. sie wusste, dass es einen richtigen gab. der richtige war ein prinz, er würde sie wachküssen, sie würde aufblicken, sie würden sich ansehen, sie würden sich küssen, und sie würden heiraten und kinder kriegen und alt werden.

er war ein prinz. ein schön gebauter, kräftiger junger mann mit einer edlen gesinnung, wie es sich für einen prinzen gehört. er war im heiratsfähigen alter, und der könig und die königin machten sich sorgen, weil ihm keine gefiel von den vielen prinzessinnen und edelfrauen, die auf den bällen erschienen, die sie für ihn veranstalteten. war er am ende schwul? er war es nicht, die jungen damen auf den bällen erregten sehr wohl sein augenmerk, aber er wollte keine von ihnen heiraten. keine war die richtige. die richtige - genau - die richtige war eine jungfrau, die darauf wartete, dass er sie wachküsste. und sie würden heiraten und kinder kriegen und alt werden.

nun wäre das königreich wohl untergegangen, wenn sich alle wie der prinz und die jungfrau verhalten hätten. nur in märchen gibt es jene unglücklich-glücklichen umstände, unter denen der prinz zur jungfrau oder die jungfrau zum prinzen findet. der prinz, weil er verantwortungsgefühl hatte, wählte schliesslich eine junge dame aus einem entfernt verwandten fürstenhaus zu seiner gattin. sie heirateten, hatten spass beim sex miteinander, kriegten kinder und wurden älter.

die jungfrau

2 suche

zufrieden war er nicht, der prinz. seine jungfrau, das wusste er in seinem innersten, wartete immer noch da draussen auf einem abgelegenen hof, zu dem ihn bis jetzt kein noch so gefährlicher auftrag geführt hatte.

eines tages gab er bekannt, im traum sei ihm ein einsiedler erschienen. er habe ihm aufgetragen, jene wundersame blume zu suchen, die den ewigen frieden unter die menschen bringe. keiner im reich widersprach, als er sich anschickte, dieser berufung zu folgen. einzig seine frau murrte. sie hatte gern sex mit ihm, die kinder waren noch nicht erwachsen, und er war trotz seiner etwas eigensinnigen natur ein unterhaltsamer begleiter ihres höfischen lebens.

bis jetzt hatte nie ein mann in einem solchen fall auf seine frau gehört. darum zog auch der prinz auf seinem pferd von dannen. er hat das weite gesucht, erzählte später seine frau jenen, die nach ihm fragten.

die jungfrau, sie war inzwischen zweiunddreissig, war ebenso verantwortungsbewusst wie der prinz. tapfer träumte sie jede nacht vom prinzen, der sie wachküsste, und fleissig pflegte sie jeden tag ihre gebrechlichen eltern, fütterte die schweine und hielt den hof und das haus in ordnung.

nun sind sich die chronisten nicht einig, ob es tatsächlich der prinz war, der eines tages auf dem hof erschien, als die junge frau eben aus dem schweinestall trat. einige behaupten, das morgenlicht habe sie geblendet, darum sei die verlotterte gestalt ihr wie ein prinz, wie der richtige prinz, vorgekommen.

die jungfrau

3 kind

tatsache ist: sie gab dem mann zu essen, sie flickte seine zerlumpten kleider, während er sich am brunnen wusch und rasierte, sie machte ihm ein lager aus stroh zurecht, und sie legte sich, nachdem er darauf eingeschlafen war, neben ihn, in der sicheren erwartung, er werde sie am morgen wachküssen.

erwiesen ist, dass der prinz zu erschöpft war, um am nächsten tag gleich weiterzuziehen. er blieb mehrere wochen auf dem hof, flickte das dach des schweinestalls, beerdigte mit ihr ihre eltern - jetzt, wo die tochter eine neue aufgabe hatte, konnten sie beruhigt sterben, rodete ein stück wald, auf dem sie weizen anpflanzten, und arbeitete auch sonst, wie es ein prinz selten tut.

wahr ist auch, dass sie schwanger wurde. er wollte sie nicht mit einem kind allein lassen in der wildnis und blieb, und als eines tages ein pilgernder mönch sich in die gegend verirrte, liessen sie sich von ihm trauen.

die beiden kriegten weitere kinder und wurden älter, und als die eisenbahn gebaut wurde, zogen die kinder in die stadt, und manchmal, wenn sie mit dem zug reisen, sehen sie von weitem das haus, in dem sie aufgewachsen sind.

die jungfrau

4 erbe

der prinz und seine frau sind inzwischen tot, die kinder leben in der stadt ein anderes leben als auf dem land, vieles haben sie vergessen von dem, was war, nur die geschichte von der jungfrau und vom prinzen ist tief in ihre seelen geschrieben, und so verwundert es eigentlich nicht, dass sie alle weder verheiratet noch alleinstehend sind und jeden november arbeitsunfähig über der frage grübeln, ob sie selber nicht doch auch eine jungfrau oder ein prinz seien und folglich irgendwo da draussen in der welt der richtige oder die richtige einsam auf sie warte.

ich fragte den chronisten, warum er die geschichte aufgeschrieben habe. ich bin chronist, sagte er. seine antwort beruhigt mich nicht. im gegenteil, es ist bereits anfang oktober, und so sicher, wie sich die zugvögel auf den telegrafendrähten für ihre reise in den süden besammeln, steigen mit dem ersten novembernebel unangenehme fragen die hügel herauf zu meinem haus.